Provokation verdient keine Bühne
- Marco Neher

- 16. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Über den (Un)Nutzen der Empörung in sozialen Netzwerken.
Aktuell sorgt der Tiroler FPÖ-Chef (wieder einmal) mit kalkulierten Aussagen für Empörung. In den vergangenen Tagen waren es rassistische Andeutungen und Anspielungen in Social-Media-Videos, die berechtigterweise für Kritik sorgten. Doch es stellt sich eine zentrale Frage: Wem nützt diese Empörung? Die Strategie dahinter ist nicht neu. Aufmerksamkeit wird gezielt durch Grenzüberschreitungen erzeugt – mit dem Ziel, Reichweite und Mobilisierung in eigenen und neuen Zielgruppen zu steigern. Und es funktioniert, wie man in vielen Ländern sieht - allen voran in den USA. Jeder empörte Kommentar, jeder mediale Beitrag, jedes politische Gegenstatement trägt dazu bei, die Botschaft der Urheber:innen zu verbreiten – auch oder gerade weil sie kritisiert wird. Im Kontext der politischen Kommunikation stellt sich immer wieder und auf allen Ebenen die Frage, wie man mit Provokationen - meistens vom rechten politischen Spektrum - umgehen kann und soll. Die Antwort darauf ist emotional und ethisch nie leicht, gerade weil die Empörung groß ist und weil man gewisse Aussagen, Symboliken und Formulierungen als überzeugte Demokrat:in und humanistisch denkender Mensch „nicht einfach so stehen lassen will“. Kommunikativ geht es aber um andere Dinge und zwar um die Funktionalität von Netzwerken und die Logik hinter Kampagnen-Reichweiten - sowohl auf den jeweiligen Kanal als auch auf die Kommunikationsreichweite insgesamt bezogen.
Denkfehler I: Berechenbarkeit der eigenen Kommunikationsnetzwerke
Die Logik sozialer Netzwerke und digitalen Kampagnen ist nicht die gleiche, wie die der „klassischen“ Gesprächssituation. Wer in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram, TikTok oder X reagiert - in welcher Form auch immer - bewirkt damit etwas, das weit über die inhaltliche Empörung hinausgeht: die Reichweite der bewussten propagandistischen Provokation wird gesteigert. Dabei ist es ganz egal, ob man (worst case) direkt auf den empörenden Inhalt reagiert oder ihn teilt, oder ob man mit Screenshots oder Referenzen arbeitet. Die Konsequenz ist immer die gleiche: die Reichweite der Provokation wird größer. Das gilt für einzelne Kanäle, aber insbesondere auch für Kampagnen - und nichts anderes sind gezielte Provokationen - insgesamt. Mit jedem Kommentar, jeder Aufregung, jedem Statement und jeder Pressemitteilung wird der ursprüngliche Inhalt prominenter. Was alles grundsätzlich kein Problem wäre, würden sich alle Menschen gleichermaßen über das Gleiche empören. Und genau hier kommt die Unberechenbarkeit der eigenen Netzwerke und der eigenen Reichweite ins Spiel. Der Denkfehler „der Empörten“ liegt darin, dass sie glauben, ihre eigene Community und ihre Follower:innen zu kennen und die Wirkung der Provokation beherrschen zu können. Nach allem was ich aus meiner Erfahrung mit politischer Kommunikation und sozialen Netzwerken weiß, ist das ein Trugschluss. Niemand kann ausschließen, dass er oder sie über den eigenen Kanal provokative Inhalte in neue Communities bringt, die sich nicht empört, sondern angesprochen und abgeholt fühlen - so absurd und abwegig die ursprünglichen Äußerungen auch für die eigenen Ohren klingen. Das gilt umso mehr, wenn man das Thema aus der eigenen Bubble und den eigenen Kanälen auf eine allgemeine Ebene hebt - zum Beispiel mit offiziellen Statements und Presseaussendungen.
Denkfehler II: Zufälligkeit von Provokationen und Grenzüberschreitungen
Gerade weil viele Grenzüberschreitungen absurd und völlig realitätsfern klingen, werden sie oft zu schnell als unqualifizierte oder sogar "fehlerhafte" Kommunikation wahrgenommen und entsprechend kommentiert. Das ist ein Fehler. Politische und antidemokratische Provokationen "passieren" in aller Regel nicht zufällig. Sie folgen einer propagandistischen Logik, die vor allem zwei wesentliche Ziele verfolgt: 1. die Aufmerksamkeit von mehr Menschen zu gewinnen und sich 2. noch stärker von bestehenden Systemen, anderen Parteien und politischen Gruppierungen abzugrenzen. Beiden Zielen spielt die Empörung der Anderen in die Hand. Das Perfide der kommunikativen Provokation ist immer, dass sie die Reaktion der Anderen - von Communities, von Parteien, von politischen Akteuren und von Medien miteinkalkuliert und die Aussagen und Botschaften gezielt so wählt, dass die "richtigen" Netzwerke und Kommunikationskanäle dadurch angesprochen werden. Weil damit eben nicht nur die Menschen in der eigenen Bubble erreicht werden können, sondern potentiell viele neue Menschen, auf die die Urheber:innen eigenständig gar keinen Zugriff hätten.
Über die eigene Wirksamkeit gegen propagandistische Provokation.
Die gute Nachricht ist: man ist nicht machtlos gegen Provokation und Propaganda. Ignorieren – bewusst, gezielt, gemeinsam – ist kein Wegschauen. Es ist Widerstand. Ohne Applaus für Provokateure. Es bedeutet, strategisch zu entscheiden, wofür man seine eigene Reichweite, seine kommunikativen Ressourcen und seine politische Energie einsetzt - für die eigenen Botschaften oder für andere. Die intensive Auseinandersetzung mit der Frage, wer wann und wie die Agenda beherrscht und welche Ziele er oder sie dabei verfolgt, ist entscheidend für den kommunikativen Erfolg im politischen Kontext. In Zeiten algorithmisch getriebener Aufmerksamkeit und der zunehmenden Akzeptanz für radikalisierte Kommunikation mit dem Zweck der Reichweitenoptimierung und der kommunikativen Wirksamkeit ist Empörung kein guter Berater. Stattdessen sollte die Reflexion auf den erwartbaren Effekt der eigenen - und damit beherrschbaren - Kommunikationsmaßnahmen im Vordergrund stehen. So schwer es auch im konkreten Fall ist.
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